Die größte Vogelfanganlage der Welt
Ägyptens Mittemeerküste ist eine Todesfalle für Zugvögel – zehn Millionen Tiere werden hier Jahr für Jahr gefangen
Unser Autor Holger Schulz begleitete den Tierfilmer Jens-Uwe Heins auf einer Expedition durch den Norden Ägyptens. An der Mittelmeerküste zwischen dem Gazastreifen und der libyschen Grenze waren die Naturschützer den Zugvögeln auf der Spur. Sie entdeckten dort die größte Vogelfanganlage der Welt. In einer mehr als 700 Kilometer langen Barriere aus Netzen finden alljährlich mehr als zehn Millionen Singvögel den Tod.
EL RASHID Im Herbst und im Frühjahr ziehen Abermillionen Singvögel über das östliche Mittelmeer zwischen Griechenland, der Türkei und Ägypten. Bereits im Jahr 1992 hatte Jens-Uwe Heins bei Dreharbeiten in El Alamein in Ägypten den massenhaften Fang von Kleinvögeln beobachtet. Mehrere Tausend Vögel wurden alleine dort täglich erbeutet. 2005 berichtete auch die ägyptische Ornithologin Mindy Baha El Din über die Vogeljagd an der Mittelmeerküste. Etwa eine Viertel Million Wachteln würden pro Jahr erbeutet, schätzte sie damals, außerdem mindestens 40 000 Singvögel.
Wie aber sieht es heute tatsächlich aus? Für die Fernsehreihe „Expedition Mittelmeer“ des Bayerischen Rundfunks sind wir in Ägypten unterwegs. Was wir dort finden, übertrifft alle unsere Befürchtungen. Bei Port Said, nicht weit vom Suezkanal, erreichen wir das Mittelmeer – und müssen nicht lange suchen. Schon von der Küstenstraße aus erkennen wir eine regelmäßige Reihe von Pfählen – und dann die dazwischen gespannten Netze. Fangnetz an Fangnetz, in endloser Reihe, etwa 3,5 Meter hoch und lückenlos aneinander gereiht. Fahrspuren von schweren Jeeps begleiten die endlose Netzbarriere. Primitive Unterstände bieten den Jägern Schutz vor der sengenden Sonne. Als wir den Netzen nach Westen folgen, erkennen wir das tatsächliche Ausmaß. Zehn Kilometer weit, 50 Kilometer, 100 Kilometer – und ein Ende ist nicht in Sicht.
Fast lückenlos lauert der Tod auf die Singvögel, die nach der nächtlichen Überquerung des Mittelmeers in den ersten Büschen am Strand nach Schatten suchen. Unterbrochen wird die riesige Fanganlage nur dort, wo Städte und Dörfer bis direkt ans Wasser reichen oder Militäranlagen den Jägern den Zugang verwehren.
Heimliche Dreharbeiten in Rashid
Am Straßenrand im Nildelta wartet ein Händler, neben Stapeln von roh gezimmerten Holzkäfigen, auf Kundschaft. Die Kisten sind voll gestopft mit Wachteln. Ein paar Kilometer weiter: Ein junger Bursche winkt mit einem großen Bündel in seiner Hand. Als wir anhalten, erkennen wir: Mindestens 30 Wachteln, an den Füßen zusammen gebunden, fertig für ein üppiges Mahl. Hier, entlang der Straße im Nildelta, werden überwiegend Wachteln angeboten. Händler mit Kleinvögeln haben wir bisher nicht gefunden. Bis der Abend hereinbricht, fahren wir weiter nach Westen, immer mit Blick auf die Netze am Strand.
In El Rashid, am westlichen Mündungsarm des Nils, beziehen wir unser Nachtquartier. Ein orientalisch geprägtes Städtchen, die Menschen sind gastfreundlich – Touristen verirren sich nicht in diese abgelegene Gegend. Wir sind willkommen, werden zum Tee eingeladen, und für unsere Einkäufe will man kein Geld nehmen. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein: Eine Drehgenehmigung haben uns die Behörden verweigert. Wir filmen illegal und müssen mit hohen Strafen rechnen, wenn wir von der Polizei oder dem allgegenwärtigen Geheimdienst entdeckt werden.
Am nächsten Morgen weckt uns der Ruf des Muezzins. Nicht von einem, sondern von mindestens 20 Minaretten. Das Frühstück muss warten. Schnell packen wir die Ausrüstung zusammen und machen uns auf den Weg. Mit unseren paar arabischen Worten fragen wir die Händler in den engen Gassen Rashids nach Vögeln. Kleine Vögel zum Essen? Ja klar, dort lang. Und tatsächlich: Drei Ecken weiter, im Souk, entdecken wir Zugvögel aus ganz Europa: Eng zusammengepfercht, den Schlächtern ausgeliefert. Ein Griff in den Käfig, und die Hand ist voll mit verängstigt piependen Singvögeln. Ein kurzer Schnitt mit der scharfen Klinge, und die Kehle ist durchtrennt. Ein paar Jungs, angeheuert, um die winzigen Kadaver zu rupfen. Ein weiterer schneller Schnitt zerteilt die winzigen Körper. Ein Stück Chilischote, Gewürze, und dann endet das, was einmal ein geschützter Vogel war, in einer Styroporpackung. Nachschub für die Gefriertruhen, die wir in dunklen Hauseingängen entdecken. Fertig aufbereitet, als teure Delikatessen für die Restaurants in Kairo oder irgendwo im Hinterland von Ägypten.
Am Nachbarstand kommt es noch schlimmer: Auf einer Fläche von drei mal fünf Metern und 50 Zentimeter hoch liegen Tausende von toten Singvögeln am Boden. Auf dem Stapel aus Holzkäfigen, in denen noch zahllose Vögel ihrem Schicksal entgegen dämmern, steht ein ausgestopfter Schlangenadler mit ausgebreiteten Flügeln: Wie ein Symbol für das unsinnige Morden. Aus einem Ghettoblaster am Stand tönt monoton eine Stimme, die Koransuren rezitiert. Hier, angesichts des Händlers, der mit blutigen Fingern Geldscheine zählt und uns wütend und fluchend beschimpft, ist von Gastfreundschaft nichts mehr zu spüren – die Situation wird bedrohlich. Wir wagen uns trotzdem an die Käfige: Fitise, Steinschmätzer, Wendehälse und Pirole, Nachtigallen und Neuntöter, Grasmücken und Wiedehopfe. Viele dieser Arten sind in Europa gefährdet, werden bei uns mit großem Aufwand geschützt. Für die ägyptischen Händler jedoch sind die Gefiederten nichts weiter als ein fettes Geschäft: Ein Singvogel kostet drei Euro, die Wachtel bis zu fünf Euro. In der Altstadt von Rasheed zählen wir etwa 10 000 Singvögel und 3000 Wachteln. Die Ausbeute eines einzigen Tages, auf einem einzigen Markt von vielen im Land.
Fang mit Reusen in El Alamein
Was passiert an der Küste zwischen Rasheed und der libyschen Grenze? Wir machen uns wieder auf den Weg. Vorbei an endlosen Netz-Wänden gelangen wir nach El Alamein, zum Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten. An der Einfahrt ist ein riesiges Netz über einen kargen Baum gespannt. Die Reuse wird allen Kleinvögeln, die hier Schatten suchen, zum Verhängnis. Überall in den Dörfern und Gehöften um El Alamein entdecken wir ähnliche Netze. Hier, so finden wir bald heraus, werden vor allem Singvögel gefangen. Dann werden die gefangenen Vögel mit grausamen Praktiken am Davonfliegen gehindert. Singvögeln werden die Flügelfedern ausgerissen, wehrhafteren Arten wie den Würgern wird bei lebendigem Leibe der Schnabel abgebrochen. Unsere Dreharbeiten stoßen auf keine Gegenliebe. Abdel, unser Kameramann, wird mit dem Tod bedroht, die Ausrüstung wird ihm aus der Hand geschlagen. Nebenan knallen die Flinten: Ganze Gruppen von Jägern sind dort vor allem auf Turteltauben aus.
Als wir unterhalb von El Alamein an die Dünen gelangen, hören wir deutlich Wachteln rufen. Fasziniert lauschen wir dem Konzert – aber dann kommt uns all das irgendwie seltsam vor. Kein Wunder, denn die Rufe kommen aus dem auf einem Jeep montierten Lautsprecher. Mit der Klangattrappe vom Band locken die Jäger die Vögel in ihre Netze. Stolz erzählen sie uns von ihren Erfolgen, zeigen uns die erbeuteten, noch lebenden Wachteln, denen sie Flügel- und Schwanzfedern ausgerissen haben. Mitten im Gespräch packt einer seine Flinte, huscht gebückt über die Düne, und dann knallt ein Schuss. Lachend kehrt er zurück und präsentiert uns einen erlegten Rallenreiher. Wir haben genug gesehen. Kein Zweifel, Ägypten ist eine tödliche Falle für zahllose Zugvögel aus ganz Europa und Asien. Von der libyschen Grenze im Westen bis zum Gazastreifen im Osten ist die gesamte Küste praktisch mit einem gewaltigen, fast lückenlosen Stellnetz versehen. Ein Sperrgürtel, dem endlos viele Vögel zum Opfer fallen. Unvorstellbare 700 Kilometer weit erstreckt sich das tödliche Netz. Aber damit nicht genug: Mit Reusen, Wurfnetzen, Leimruten und Gewehren werden entlang der Küste weitere Vögel getötet. Wie viele sind es tatsächlich? Selbst bei äußerst zurückhaltender Schätzung kommen wir auf mindestens zehn Millionen Vögel, die hier jährlich gefangen werden. Ein Aderlass, der Auswirkungen auf die Populationen hat, vor allem bei bedrohten Arten.
„Kein Urlaubsort, wo Vogelmord“
Zurück in Deutschland sind wir erst mal ratlos. Was kann man tun, um den Fang und das Töten zu stoppen? Nach unserenBerichten beschloss der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) spontan, in Kürze eine groß angelegte Kampagne für denSchutz der Zugvögel an der ägyptischen Mittelmeerküste zu starten. Mit ihr soll die internationale Öffentlichkeit mobilisiert und Spendengelder für die erforderlichen Maßnahmen gesammelt werden. „Kein Urlaubsort, wo Vogelmord“ – dieser Slogan zeigte schon in den 1980er-Jahren in Italien und Frankreich seine Wirkung. Warum eigentlich nicht heute auch in Ägypten?
Das Team der Ägypten-ExpeditionDr. Holger Schulz, Biologe, arbeitet seit vielen Jahren als internationaler Consultant in der Zugvogelforschung und berichtet als Journalist und Buchautor über Tier- und Naturschutzthemen aus der ganzen Welt.
__________________________________________________________________________________________
Das Team der Ägypten-Expedition
Biologe, arbeitet seit vielen Jahren als internationaler Consultant in der Zugvogelforschung und berichtet als Journalist und Buchautor über Tier- und Naturschutzthemen aus der ganzen Welt.
ist Fernsehautor im Bayerischen Rundfunk mit Schwerpunkt Arten-/Naturschutz. Zahlreiche Filmproduktionen führten ihn durch ganz Europa, Afrika, Asien, Australien und Nordamerika.
__________________________________________________________________________________________
Entnommen aus der Sylter Rundschau Sonnabend, 13. April 2013.