Die Odyssee der verwirrten Zugvögel
Erst zu mild, dann zu kalt: Das wechselnde Wetter sorgte dafür, dass Zugvögel zu früh nach Sylt kamen und von dort gleich wieder weg flogen
Sylt Vom langen Winter sind in diesem Jahr nicht nur Menschen, sondern auch die gefiederten Gäste der Insel betroffen: Zugvögel, die im Frühjahr Zwischenstation auf Sylt machen, um ihre Fettreserven für den Weiterflug in den Norden aufzufüllen, oder gleich zum Brüten bleiben.
Normalerweise kommen die Zugvögel zwischen Ende Februar und Mitte März nach Sylt. Doch das diesjährige, wechselnde Winterwetter sorgte bei den Vögeln für Verwirrung: Durch kurze, milde Phasen dachten einige Tiere schon im Januar, der Frühling sei gekommen und kehrten von ihren Winterquartieren in Großbritannien, Holland oder Frankreich ins nördliche Wattenmeer zurück. Dann wurde es aber wieder über Wochen richtig kalt und die Ringelgänse, Kibitze, Goldregenpfeifer und anderen Arten versuchten, in ihre Winterquartiere zurück zukehren.
„Die meisten haben es sicherlich geschafft, aber einige Vögel sind an der Kälte auch gestorben. Wie folgenschwer die Lage wirklich ist, weiß man erst nach den Zählungen im Frühjahr und Herbst“, erklärt der Biologe und Vogelexperte Klaus Günther von der Schutzstation Wattenmeer in Husum. So sei es im Winter häufiger hin und her gegangen: Einige risikofreudige Tiere machten sich in wärmeren Phasen auf den Weg ins Wattenmeer, nur um dort erkennen zu müssen, dass es doch noch zu kalt war.

Mitte März gab es einen Wintereinbruch . Den Kiebitzen machten Kälte und Schnee zu schaffen. Trotzdem kehrten sie nicht in ihre Winterquartiere zurück.
Foto: Klaus Günther
Am schlimmsten hat es wohl die Kiebitze getroffen. Sie brüten im Wattenmeer und sind auf Sylt vor allem am Nösse-Koog anzutreffen. Als die Kiebitze während der ersten warmen Tage Anfang März ins Wattenmeer zurückkehrten und kurz darauf eine neue Kältewelle einsetzte, hofften sie wohl wie so mancher Sylter Gastronom darauf, dass diese bald vorüber gehen würde. Jedenfalls blieben die Kiebitze, und viele von ihnen bezahlten diese Entscheidung mit ihrem Leben. „Die Vögel versuchten entlang der Straßen, wo Salz gestreut war, der Kälte und dem Dauerfrost zu entgehen. Dort wurden sie dann häufig überfahren“, erzählt Vogelexperte Günther.
Die Entscheidung für oder gegen einen Flug in den Norden treffen die Vögel nach den Temperaturen in ihren Winterquartieren und der Weg ist nicht besonders weit – Ringelgänse fliegen mit 60 bis 70 Stundenkilometern und brauchen für die Strecke von Großbritannien bis Sylt nur etwa einen Tag. Auch Kiebitze sind von ihren Winterquartieren in Frankreich oder Holland innerhalb von ein bis zwei Tagen im nördlichen Wattenmeer.
Das Risiko, das mit dem frühen Flug verbunden ist, kann sich für die Vögel lohnen. Denn wer als erster die Brutgebiete erreicht, kann sich auch den besten Brutplatz und den besten Partner aussuchen und damit die optimalen Bedingungen für den Nachwuchs schaffen. „Es gibt in jeder Population spontanere und zurückhaltendere Vögel“, so Günther. Welche sich genetisch durchsetzen, hänge letztlich von den klimatischen Bedingungen ab. Wer eher losfliegt, hat die Chance, die besten Brutplätze zu ergattern, aber er geht auch das Risiko ein, von der Kälte überrascht zu werden. „In diesem Jahr hatten die risikofreudigeren Tiere besonders schlechte Karten“, fasst Günther zusammen.
Wenn die Vögel ankommen, sollte es frostfrei sein und frisches Gras geben. Denn sonst finden sie kein Futter. „Allerdings hatten wir in diesem Jahr sehr lange Dauerfrost. Das Gras kann erst ab fünf Grad vernünftig wachsen“, so Günther. Deshalb hofft der Experte jetzt auf milde, feuchte Witterung. Für den Bruterfolg der Ringelgänse in der Arktis beispielsweise seien die nächsten Wochen entscheidend. „Denn nur gut genährte Ringelgänse können erfolgreich für Nachwuchs sorgen.“
Von Cornelia Pfeifer, 09.04.13, Sylter Rundschau